Liebe Mutter
Wie geht es dir? So würde ich den Brief beginnen, wenn du noch lebtest. Dein Tod vom 8. Dezember 2015 wurde von dem meines Vaters überschattet. Es scheint das Privileg des Überlebenden zu sein, die ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten. Niemand steht im Weg. Mein Vater war froh über meine Präsenz und Empathie. Du könntest aber die Frage stellen, warum ich nicht zuerst an dich schrieb. Warum «bekommt» er den Brief vor dir?
Dein plötzlicher Tod vor 9 Jahren wurde vollständig von Vater «bewirtschaftet». Ich kam nicht mehr an dich ran. Er wollte dich ganz für sich. Mein Protest blieb leise. An deiner Beisetzung lenkten mich die Lebenden ab. Das ist der Zweck von Beisetzungen. Darüber hinaus machten sich die ersten Vorzeichen des bevorstehenden Endes meiner Ehe bemerkbar. Da aber wieder Ruhe einkehrte, gab ich mich der trügerischen Hoffnung hin. Die Zeitspanne, die mit deinem Tod begann, und mit meiner ehelichen Trennung endete, ist immer noch vernebelt. Ich glaube aber nicht, dass sich das ändern muss. Du ahntest es vermutlich.
Seitdem ist viel geschehen. Der Reihe nach starb Anna deine Schwägerin, dein Mann, die Frau deines Bruders, der Mann deiner Schwester und schliesslich im Frühjahr 2023 dein Bruder. Es ist traurig, dass sie alle gegangen sind und dass wir nur noch die Erinnerung haben. Manchmal hole ich die alten Fotoalben hervor und betrachte euch alle, am liebsten, als ihr noch jung wart, viel jünger als ich heute, etwa im Alter meines Sohns vielleicht. Ihr lacht auf den Bildern und manchmal posiert ihr. Ihr raucht elegant und stilbewusst. Es erinnert alles an die Filme der 1960er Jahre. Auch eure Freunde von damals sind zu sehen, nobel in St. Moritz mit Wollpullovern und Sonnenbrillen, wie Audrey Hepburn in Charade. Dann komme ich ins Bild. Folgsam brav und blond, behütet sitze ich im Gras und mache irgendwas. Dann berühre ich Christbaumkugeln und den Storch über dem Kinderbett.
Gabriele und ich leben jetzt im Languedoc und haben im letzten Herbst in unserem Garten sogar eine Robinia gepflanzt. Der einzige Baum dessen Blätter ich nicht fand, damals für den Botanik-Unterricht in der Schule. Der Baum der faktisch meinen Schulweg säumte, was bei dir sehr ernsthafte Zweifel an mir aufkommen liess. Dabei hatte ich auf dem Schulweg bloss anderes im Kopf als Botanik und liess Robinia links liegen. Das war nicht das letzte Mal mit deinen Zweifeln an mir. Es ging weiter so und du irrtest dich oft. Zugegeben hast du es nie. Haben Mütter das Privileg der Unantastbarkeit ihrer Zweifel? Vermutlich lag das Zweifeln in deiner Familie. Selbst auf alten Fotos scheinen sie zu zweifeln. Gelacht wird auf den Fotos nur über die Witze und Grimassen derer, die sich damit auskannten. Da kam die Familie meines Vaters gerade recht. Sie brachten ein wenig Stimmung und Ausgelassenheit in eure katholische Einöde in Untersiggenthal. Vielleicht ist das ungerecht von mir, aber in Wettingen gab’s damals einfach mehr zu lachen. – Sie waren ja keine pflichtbewussten Protestanten. Mein Vater wurde als Kleinkind ganz pragmatisch umgetauft, um die Berner Verwandtschaft zu erfreuen. Die hatten Geld.
Dabei mochte ich deine Mutter, meine Grossmutter am liebsten. Sie war liebevoll und verbindlich. Die legendäre Rhabarbertorte schmeckte verführerisch. Ein bisschen Langeweile konnte ich verkraften. Ich war Einzelkind. Wenn ich nachts im grossen Bett im Dunkeln Angst hatte und nicht einschlafen konnte, bekam ich eine dieser kleinen Belladonna-Tabletten und schwebte danach selig ins Reich der Träume. Sie hat nicht lange gefackelt mit bewährten Mittelchen. Die Schmerztabletten in der Schublade der Singer-Nähmaschine waren den beliebten Frucht-Karamell sehr ähnlich. Auch punkto Suchtpotenzial. Meiner Cousine und mir wurde es bloss mit der Zeit ein wenig übel davon. Irgendwann fand man heraus, woran es lag. Dann gings ans Vertuschen.
Als ich im Krankenhaus mit 12 oder so operiert wurde, hast du meine Spitaldiät kurzerhand ein wenig bereichert. Ein paar Scheiben Salami wurden aus der Alufolie gezaubert und von mir schnell im Bett verzehrt. Vater stand Schmiere und warnte vor der herannahenden Krankenschwester. Du erzähltest, der Koch des Spitals Männedorf hätte in der Radiosendung «Nachtexpress» die Musik aus dem Film «Spiel mir das Lied vom Tod» gewünscht. Ich lachte schmerzverzerrt wegen der Operationswunde. Blöd ist nur, dass du dann eben im dem Spital später starbst und Vater auch beinahe, wenn sie ihn nicht noch ins Pflegeheim abgeschoben hätten. Man sollte im Leben etwas häufiger umziehen um solche schicksalshaften Verknüpfungen zu vermeiden.
Für dich und mich wäre es besser gewesen, mein Vater wäre vor dir gestorben. Wir hätten oft miteinander über viele Dinge ungestört geredet. Für Vater war es besser, so wie es war. Für mich wäre es besser gewesen, wir hätten zu dritt sachlicher reden können, als wir es konnten, als ihr beide noch lebtet. Und doch hättest du mich stärker herausgefordert als mein Vater auf seinem völlig überstellten Balkon in Herrliberg (das hättest du sehen müssen). Die späte Vater-Sohn-Harmonie war schon auch etwas selbstgefällig. Indem wir uns vieles sagten, verschwiegen wir damit auch vieles. Du hättest dich weniger einlullen lassen und mir Paroli geboten.
Je älter ich werde, umso deutlicher wird das Erlebte, die Vergangenheit. Ging es dir auch so? Ich frage mich manchmal, ob die Gegenwart überhaupt existiert. Und schon ist der Moment von jetzt wieder vergangen. Ich kam zur Überzeugung, die gefühlte Gegenwart sei ein kurzer Zeitraum, der mit dem kürzlich Erlebten beginnt und dem absehbar Zukünftigen endet. Alles andere ist längst vergangen oder noch völlig ungewiss.
Das relativiert doch alles, liebe Mutter und damit beende ich den Brief, den ich dir so lange schreiben wollte.
Liebe Grüsse
Christian