Man kann sich zu jedem Tag im Leben Gedanken machen. Menschen, die das tun schreiben Tagebücher. Mein Vater tat es zu meiner grossen Überraschung. Ich stellte es nach seinem Tod fest. Etwa 20 Jahre schrieb er jeden Tag eine kurze Notiz in eine dünne Agenda. Er begann damit nach seiner Pensionierung mit 63. Es waren täglich ein paar Notizen nur, vermutlich eine Erinnerungsstütze, mit der nur er selbst etwas anzufangen wusste. Vielleicht wollte er auch die angenehme Routine dieser Jahre festhalten und sich immer wieder vor Augen führen. Das immer Wiederkehrende der Jahreszeiten und Tätigkeiten. Im Frühjahr das Segelboot wassern, im Winter ins Winterlager damit und dann ein wenig daran arbeiten und dann wieder ins Wasser damit. Oder am Montag im Rössli, am Mittwoch im Alpenblick und vorher immer im Altersheim die Kollegen abholen.
Ich bin 24 Jahre nach meinem Vater ebenfalls 63 Jahre alt geworden und ebenfalls pensioniert. Es gibt keinen Zusammenhang. Wenn ich nun in den nächsten Tagen mit einem Ereignis-Tagebuch begänne – ganz wie mein Vater – was würde nach einigen Jahren drinstehen? Welche wiederkehrenden oder einmaligen Ereignisse liessen sich herauslesen? Da lässt sich kaum etwas voraussehen, einmal abgesehen davon, dass es an Samstagen zum Frühstück Spiegeleier mit Speck gibt und an Dienstagen ein Müsli mit Bananen und Haferflocken. Daran wird sich in den kommenden Jahren kaum etwas ändern, aber es ist unwahrscheinlich, dass diese Ereignisse in meinem Ereignis-Tagebuch nachzulesen wären.
Es gibt Ergiebigeres als Frühstücksgewohnheiten: Ich könnte zu Papier bringen, was ich so mache, denke oder wie ich mich fühle. Ich war aber noch nie gut darin, mich damit jemandem oder etwas anzuvertrauen. Sich einem Tagebuch anzuvertrauen, es wie einen Menschen zu behandeln, das ist oder war doch etwas für Mädchen in der Pubertät. Die richtig «schlimmen» Dinge schreibt man aber doch nicht nieder, denn die Gefahr besteht, dass es jemand liest. Das Tagebuch ist mein, sein oder ihr Geheimnis.
Heute ist es vermutlich anders. Wir wollen, dass uns jemand liest, dass jemand von uns erfährt. Wir wollen gesehen werden. Mit 63 ist das heute nicht anders als mit 13 oder 23. Darum gibt es soziale Medien, die wir als Gegenleistung mit unseren Vorlieben versorgen, mit unserer Konsumenten-DNA und mit unseren Koordinaten. Mit 63 nehme ich das weniger ernst als ich es mit 23 täte. Ich gehe davon aus, dass sich niemand mehr aktiv für meinen Aufenthaltsort interessiert, und lasse mir bereitwillig in die Karten schauen. Routiniert prüfe ich täglich wie ich Gefallen finde und routiniert erweise ich Gefallen.
Die Routine ist eine liebe Vertraute und wer glaubt, drei Mal Urlaub im Jahr hielte die Routine ab, vergisst, dass sich jeder Urlaub spätestens am dritten Tag gleich anfühlt, wie der Letzte und wohl auch der nächste Urlaub. Es ist der Routine egal, wo ich mich aufhalte. Wir trinken wenigstens fünfmal im Jahr unseren Lieblings-Champagner. An unseren Geburtstagen, dem Hochzeitstag, an Weihnachten und an Sylvester. Vielleicht auch noch am Valentinstag und jetzt, wo ich daran denke, auch noch am Jahrestag unseres Hauskaufs. Jahraus und Jahrein siebenmal derselbe Champagner und wir geniessen «la routine Champagne» in vollen Zügen. Routine bringt Disziplin in den Genuss.
Die Routine muss bewahrt werden. Sie kommt ohne Ordnung nicht zurecht. Sie würde der zügellosen Beliebigkeit weichen. Schon der Versuch, unüberlegt spontan etwas zu ändern bringt Verwirrung ins Leben. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man sein Leben nahezu vollständig selbst bestimmen kann. Früher war das nicht möglich. Ab 63 ist das nun der Fall und jetzt werden wir richtige Langweiler.