Ich erinnere mich nicht an Vieles aus dem gymnasialen Französisch-Unterricht. Einer der Merksätze, der mir heute noch ins Gehirn gebrannt ist: um Gottes willen niemals für’s Küssen das Verb “baiser” gebrauchen…
Das ist eine der typischen Inkonsistenzen der französischen Sprache, denn “le baiser” ist schliesslich der Kuss und “la bise” das Küsschen. Küssen als Tätigkeit heisst jedoch “embrasser” (was aber auch bedeuten kann, jemanden zu umarmen)…
“Se faire la bise”
Aber heute geht es nur um das ganz unschuldige Küsschen unter Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten: “se faire la bise”.
Ganz einfach ist auch dieses nicht, denn man muss ja wissen, ob, wem, wann und wie man Küsschen gibt. Man sollte meinen, dass wir als Schweizer hier genug Erfahrung hätten. Aber Frankreich ist eben nochmal anders. Und post-Covid sowieso.
In der (deutschen) Schweiz küsst man sich dreimal auf die Wangen. Unter Frauen, zwischen Männern und Frauen, aber niemals unter Männern.
Hier im Languedoc küsst man sich zweimal* auf die Wangen. Unter Frauen, zwischen Männern und Frauen, aber auch manchmal unter Männern.
Das Küsschen ist aber nach Covid nicht mehr so ganz so selbstverständlich oder gar obligatorisch wie früher. Wo man sich vor 2020 selbst unter Arbeitskollegen mindestens zweimal pro Tag geküsst hat, ist “la bise” heute eher dem Privatleben vorbehalten.
Es gibt keine fixen Regeln mehr und das Küssen geschieht eher nach Lust und Laune. Man überlegt sich vorher, ob man den Anderen nun küssen will oder nicht, und wenn sich dieser die gleichen Gedanken macht, könnte das Ganze umständlich werden – aber meist funktioniert es ganz gut und intuitiv. Alternativen sind je nach Gegenüber ein lächelnder Blick in die Augen, das gute alte Händeschütteln, “le check” (der Faust-gegen-Faust-Gruss) – oder auch der amerikanische “Hug”.
In unserem französischen Freundeskreis und im Verein küssen wir uns meist alle zur Begrüssung, aber häufig nicht zum Abschied. Es kommt auch immer darauf an, wie viele wir sind. Vierzehn Leute reihum zweimal zu küssen, kostet einfach Zeit – Zeit, um die es auch vielen Franzosen zu schade ist. Und man möchte ja auch nicht unnötig die ganze Party auflösen. Weshalb es bei uns völlig okay ist, zum Abschied evtl. die Gastgeber zu küssen und ansonsten “Salut!”-rufend und -winkend zu gehen.
Die Regeln
Einmal, zweimal, dreimal, viermal? Laut Befragungen ist es regionsabhängig, wie oft man sich küsst und mit welcher Wange man beginnt.
*Angeblich gelten für das Languedoc drei Küsse, beginnend mit der linken Wange. In unserem Freundeskreis sind es aber immer zwei Küsse, rechts beginnend. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten unserer Freunde aus dem Norden Frankreichs stammen. Oder dass wir so nahe an der Grenze zum Départment Aude leben, wo zwei Küsschen gelten.
Zur Begrüssung, zum Abschied, zum Gratulieren, zum Bedanken…? Bei jeder dieser Gelegenheiten kann geküsst werden, muss es aber heute nicht mehr.
Mit den Lippen oder den Wangen? Laut den Regeln sollten die Lippen eigentlich nicht ins Spiel kommen. Man lehnt Wange an Wange und macht ein Kussgeräusch in Richtung Ohr. Es ist ja auch eigentlich physisch unmöglich, dass sich zwei Leute gleichzeitig mit den Lippen auf die Wangen küssen. Einige ältere Männer unter unseren Freunden schmatzen mich jedoch durchaus mit den Lippen auf die Wangen.

Bildquelle: William Adolphe Bouguereau, 1825-1905