Konfrontation statt Konsens?
Franzosen sind anders als Schweizer. Aber das ist bei fast 68 Mio Menschen vermutlich doch allzu pauschal. Also sagen wir mal: Südfranzosen sind anders als Nordwestschweizer.
Unter Fremden, auf der Strasse, im Laden oder Restaurant, fällt als Erstes die Freundlichkeit auf. Hier wird weitaus mehr gelächelt als in der Schweiz, die Menschen wirken entspannter und offener. Der Umgangston ist freundlich und verbindlich, ohne jede Servilität.
Unter Freunden oder Bekannten kann der Umgangston dann aber auch recht ruppig wirken. Franzosen sind weitaus diskussionsfreudiger und dabei weitaus weniger konsensorientiert als Schweizer.
Wo man in der Schweiz ein Gesprächsergebnis etliche Male in unterschiedlicher Form wiederholt, um den Konsenz zu bekräftigen, gibt es in Frankreich kein Gesprächsergebnis. Stattdessen wird jedes Argument und jede Feststellung aus jeder Perspektive und in jeder vorstellbaren Variante wiederholt. Man hat das Gefühl, niemand hört zu, niemand hat Interesse an der Meinung des Anderen, und jeder macht und denkt im Anschluss an das Gespräch das, was er sowieso schon immer tun und denken wollte.
Das war besonders schön zu beobachten auf dem kürzlichen Ausflug mit unseren französischen Vereinsvorstandskollegen:
A: Sollten wir jetzt hier links?
B: Oder lieber rechts?
C: Schau mal, auf meiner Online-Map geht es auch gradeaus.
A: Ich finde den Weg links aber schöner!
B: Der Weg rechts ist aber flacher.
D: Wir sind ja auch von links gekommen, also sollten wir in die Richtung weiter.
E: Also wir gehen jetzt rechts weiter.
F: Also mir ist es egal, Hauptsache, es gibt dort was zu essen.
C: Wir gehen mal gradeaus – vermutlich trifft man sich dann irgendwo da vorne wieder.
Und wenn dann noch jemand Luft holt und mit “Ecoutez…!” die Aufmerksamkeit aller bekommen will, beginnen mindestens zwei Leute ein Nebengespräch unter sich oder laufen weg.
Man diskutiert einfach für’s Leben gern. Konsens und Übereinstimmung ist nichts, was Franzosen in einer Unterhaltung suchen oder erwarten. Im Gegenteil, sie lassen den höflichen Smalltalk gerne so bald wie möglich hinter sich und steigen in die Diskussion ein, indem sie provozieren, widersprechen, andere Perspektiven oder Informationen aufzeigen, etc.
Eine Unterhaltung ist in Frankreich ein Spiel unter gleichwertigen Partnern, von denen man nur erwartet, dass sie die Regeln kennen und gut spielen. Unterschiedliche Meinungen, Hintergründe, Charaktere, etc. werden nicht als Konfliktpotential betrachtet, sondern als Bereicherung der Diskussion und des gemeinsamen Spassfaktors. Freundschaftliche Diskussionen, in denen verschiedene Perspektiven konfrontativ aufeinanderprallen und man sich hart aber herzlich intellektuell schlägt, gelten als viel interessanter als politisch korrekter Smalltalk.
Gleichzeitig geht es nicht darum, mit dem verbalen Breitschwert um sich zu schlagen, bierernst, dramatisch oder persönlich zu werden. Diskussion à la française ist weder formeller Debattierclub noch offener Streit, sondern ein Spiel mit Regeln. Man nimmt weder das Thema noch sich selbst allzu ernst. Was man sagt, darf unbequem sein, respektlos, polemisch oder provozierend. Aber man sagt es nicht, um den Anderen gezielt zu ärgern, sondern um die gemeinsame Unterhaltung zu befeuern. Man ist spontan und ehrlich, ohne sein Innerstes offen zu legen. Man hört zu und man lässt auch andere zu Wort kommen. Ob etwas und was dabei herauskommt, ist völlig unwichtig – es geht nur um den Spass an der Diskussion.
Dieser Blogbeitrag wurde inspiriert von verschiedenen Aussagen im Buch “The Bonjour Effekt” von Julie Barlow – nachdem diese Aussagen in unserer Realität verifiziert wurden 🙂
Bildquelle: “Discussing the War in a Paris Café”, Illustrated London News