C’est la grève!

C’est la grève!

Frankreich streikt

Heute ist wieder einmal «la grève». Es herrscht Streik und diesmal ist es ein nationaler Generalstreik, der viele Berufsgruppen umfasst. Die Gewerkschaften und Verbände haben sich vereint, um gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre zu protestieren. Wie viel Sinn das aktuelle französische Rentensystem macht, lassen wir mal undiskutiert.

Heute geht es um das Phänomen des Streikens in Frankreich und seine Auswirkungen. Und wenn man diese bedenkt, ist es eigentlich erstaunlich, wie viel Rückhalt das Streikrecht trotz allem in der Bevölkerung hat. Ein so nationaler Streik wie heute betrifft nun wirklich die allermeisten Personen. Glücklicherweise arbeiten wir im Home Office, haben einen vollen Tank und müssen heute nirgendwohin. Der Streik hat also wenig Auswirkungen auf uns. Auf viele Andere jedoch sehr. Zum Beispiel auch auf die selbständige Bauzeichnerin, die ihren heutigen Termin bei uns verschieben musste, weil ihre Kinder nicht in die Schule können. Diesen Verdienstausfall ersetzt ihr niemand.

Da die Beschäftigten in den meisten Bereichen nicht vorher ankündigen müssen, ob sie am Streik teilnehmen werden oder nicht, ist es auch entsprechend schwierig, vorher zu wissen, welche Auswirkungen der Streik auf den eigenen, lokalen Alltag haben wird.

Auf der Informationsseite Cestlagreve kann man sich informieren, welche Streiks für welche Sektoren und in welchen Regionen geplant sind bzw. welche Sektoren vom aktuellen Generalstreik betroffen sind. Die Informationen kommen von den teilnehmenden Gewerkschaften und können sich im Lauf des Streiks noch ändern. Das Folgende ist also nur ein Beispiel für den aktuellen Moment.

Vom aktuellen Generalstreik des 19. Januar 2023 sind folgende Bereiche betroffen.

Transportwesen

Staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF
Verschiedene Eisenbahn-Gewerkschaften haben die Angestellten der SNCF zum Streik aufgerufen. Es ist also davon auszugehen, dass sowohl lokale, wie nationale und internationale Zuglinien betroffen sind. Informationen dazu soll es 24-48 Stunden im Voraus auf den Webseiten der Eisenbahnunternehmen geben.

Öffentlicher Nahverkehr
Bus- Metro- und Tram-Verbindungen in den Städten und Agglomerationen sind einerseits vom Streik der Fahrer betroffen, andererseits von den erwarteten Protestdemonstationen in den Städten, die den Verkehr blockieren. Man sollte sich im Voraus auf den Webseiten des lokalen ÖV-Netzes informieren.

Güterverkehr
Die Vereinigung der Frachtführer, Fernfahrer, Krankenwagenfahrer, Busfahrer etc. hat die Teilnahme am Streik angekündigt, worauf es zu Blockaden oder zu «Operations Escargots» (Langsamfahren) auf den Strassen und Autobahnen kommen kann.

Flugverkehr
Die Gewerkschaft der Zivilluftfahrt ruft das Personal, inklusive der Fluglotsen, zum Streik auf. Gebuchte Passagiere sollten im Fall eines Flugausfalls direkt Nachricht der Fluglinie erhalten.

Schulen

Die Gewerkschaften der Lehrer rufen zum Streik auf. Kindergärten und Grundschulen sollten Eltern im Voraus informieren können, da Kindergärtner*innen und Grundschullehrer*innen ihre Teilname am Streik vorher ankündigen müssen.
Für Sekundarschulen, Gymnasien und Universitäten gilt das jedoch nicht, weshalb es für Eltern älterer Kinder nicht möglich ist, im Voraus zu wissen, welche Lehrer abwesend sein werden und welche Klassen ausfallen.

Die Schulkantinen, die ausserschulische Betreuung, Tagesstätten und Krippen können betroffen sein, da alle öffentlichen Angestellten ebenfalls am Streik teilnehmen können. Hier kann man in der Gemeinde nachfragen, wie es aussieht.

Andere Sektoren, in denen zum Streik mobilisiert wird

Öffentlicher Dienst
Gesundheitswesen und Sozialbereich
Polizei
Energieversorgung
Petroleumindustrie
Post

Es können grundsätzlich alle öffentlichen Einrrichtungen, Dienststellen und Unternehmen betroffen sein. So ertönt heute auch im nationalen Radiosender “France bleu” nur Musik, es gibt keine Nachrichten oder sonstige redaktionellen Beiträge. Da auch Tankstellen nicht beliefert werden, könnte stellenweise die Treibstoffversorgung gefährdet sein.

Streik und Protest als Norm in Frankreich

In Frankreich sind Streiks grundsätzlich etwas völlig Normales. Im letzten Jahr (2022) gab es 15 Streiks. Darunter folgende Beispiele.

Im Januar legten zwei Drittel der Angestellten in Grundschulen, Sekundarschulen, Gymnasien und Universitäten die Arbeit nieder. Jede zweite Schule war geschlossen. Der Protest richtete sich gegen die strikten und sich ständig ändernden Hygienevorschriften.

Kinderkrippen und Kindergärten schlossen während des Jahres mehrere Male in Paris und anderen Gemeinden, um gegen die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen, den chronischen Personalmangel und für mehr Gehalt zu demonstrieren.

Dann streikte zum ersten Mal seit 20 Jahren das Personal des Aussenministeriums. Dabei ging es um eine Reform, die ab 2023 zwei der höchsten diplomatischen Dienstgrade abschafft. Um die Gemüter zu beruhigen, bot die Regierung im Dezember die Schaffung von 100 zusätzlichen Stellen. Seit diesem Streik gibt es einen neuen Verband für Diplomaten.

Der Jahrgang 2021-22 der Ecole Nationale de l’Administation, der als Erster die von Emmanuel Macron angestrebte Reform der Schule erprobt, protestierte gegen eine «schlecht vorbereitete Schulzeit» und eine Liste von Stellen nach dem Abschluss, die sich zu extrem von den bisherigen unterscheide.

Am Ende des Sommers wurden fast alle Raffinerien und Öldepots bestreikt. Das Personal forderte eine gerechtere Verteilung des Ölreichtums. Es kam zu langen Schlangen an den Tankstellen, in den Social Media Community-Gruppen teilte man sich, welche Tankstelle noch welchen Treibstoff vorrätig hatte. Stellenweise wurde Treibstoff auch Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen und ähnlichen Einrichtungen vorbehalten. Die Regierung war sehr beunruhigt über die mögliche Wirkung dieses Streiks auf andere Berufsgruppen und griff sogar zum Mittel, streikendes Personal zur Arbeit zu zwingen, um die Versorgung in manchen Regionen sicher zu stellen.

Die Mitarbeiter der Electricité de France (EDF) in den Kernkraftwerken, die sich im Herbst auf die erwartete winterliche Energiekrise vorbereiteten, nutzten dieses Kräfteverhältnis, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie brachten die Produktion und Wartung der Reaktoren in ganz Frankreich einen nach dem anderen zum Stillstand. Die Angst war gross bis bei EDF und in der Regierung und so gab die Geschäftsleitung nach nur zwei Diskussionstagen nach, indem sie den Lohn um mindestens 200 Euro pro Mitarbeiter erhöhte.

Dieser Erfolg wurde gleich darauf vom mächtigen Verband der Minen und Energie sowie von den Mitarbeitern der Strom- und Gas-Verteiler Enedis und GRDF genutzt, um ebenfalls den gleichen Erhöhungsbetrag zu fordern, den sie dann bis Ende Jahr auch erhielten.

Seit Ende 2021 protestieren ca 40 ehemalige Zeitarbeitskräfte von Chronopost und DPD an zwei Standorten dieser Tochterunternehmen der Post in der Region Paris. Sie prangern Arbeitsbedingungen an, die “moderner Sklaverei” gleichkämen und die zunehmende Ausbeutung undokumentierter Arbeitskräfte («sans papiers») durch die Post.

Im September demonstrierte zum ersten Mal in seiner Geschichte der Berufsstand der Finanzmakler. Sie zogen vor den Sitz der Banque de France, um einem “allgemeinen Überdruss” Ausdruck zu verleihen. Die
15 Standorte des französischen Pharmariesen Sanofi sowie die Beschäftigten der Vertriebs- und Transportplattform Geodis legten über mehrere Wochen die Arbeit nieder, um angesichts der Rekordgewinne ihrer Unternehmen einen angemessenen Lohn zu fordern.

Die Reorganisation der Nationalbibliothek wurde ebenfalls das ganze Jahr über von Angestellten und Lesern bekämpft und die Organisation CGT-FSU-SUD forderte im Mai mehr Mittel und bessere Arbeitsbedingungen.

Wie fast jedes Jahr kam es auch im öffentlichen Nahverkehr zu mehrfachen Protesten aufgrund von Arbeitskräftemangel, niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen.

Und schliesslich streikten zum Weihnachtswochenende die Weichenwärter und Zugkontrolleure. Hunderte von Zügen fielen über das Weihnachtswochenende aus, worunter auch meine Nachbarin litt, die sich auf den lang ersehnten Besuch ihres Patenkindes gefreut hatte.

Streik ist also völlig normal in Frankreich. Aus diesem Grund sollte man sich z.B. im Vorfeld einer geplanten Zug- oder Flugreise immer informieren und dafür sorgen, dass das Auto immer aufgetankt ist.

Warum ist Streik in Frankreich derart akzeptiert?

Die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt es im Detail. Hier daher nur eine kurze grobe Zusammenfassung:

In Frankreich hat jeder Bürger das Recht, zu streiken – egal ob aus arbeitsrechtlichen oder politischen Gründen und egal, ob er einer Gewerkschaft angehört oder nicht.

Die zahlreichen Gewerkschaften («syndicats») und Verbände sind eher schwach: nicht einmal jeder 10. Franzose gehört einer Gewerkschaft an. Daher besteht nur über laute politische Mobilisation und Disruption die Möglichkeit, genug Druck auszuüben, um ihre Interessen durchzusetzen.

Gleichzeitig haben die Bürger einerseits wenig Möglichkeit, direkt oder über Interessensverbände, NGO, etc. die Gesetzgebung zu beeinflussen. Sie können quasi nur dagegen protestieren. Andererseits haben sie hohe Erwartung an den Staat und die soziale Sicherung.

So ist der Streik und «la manif» in Frankreich ein weithin akzeptiertes Mittel, um Interessen kundzutun und durchzusetzen und man solidarisiert sich meist mit den Streikenden. Allerdings macht sich in den am meisten betroffenen Städten, wie z.B. Paris, manchmal auch eine gewisse Streikmüdigkeit bemerkbar, wenn man wieder einmal nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren kann, wenn die Kinder nicht in die Schule können, etc.

Bild Foto von Clay Banks auf Unsplash


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