Wer mich etwas länger kennt, weiss, dass ich im November 2010 in Olten ein Geschäft für hochwertige HiFi-Anlagen und dergleichen eröffnete. Seit 2013 bin ich zudem Redaktor für die Schweizer Online-Fachzeitschrift avguide.ch. Kurz vor unserer Emigration nach Südfrankreich gab ich das Geschäft auf. Als Redaktor kann ich jedoch immer noch arbeiten. Jedenfalls bin ich mit dem Thema Musikwiedergabe für audiophile Musikhörer und Fans immer noch eng verbunden aber ein paar wichtige Dinge haben geändert.
Musikhören auf hohem Niveau ist eine zwiespältige Angelegenheit. Wer sich mit einem Glas Rotwein (oder von mir aus einer Tasse Tee) vor seine perfekt orchestrierte HiFi-Anlage setzt, präzise ins Zentrum, den sog. Sweetspot, der wird meistens kritisch beurteilt. Ein Eigenbrötler oder Single oder ein Introvertierter? Wenn man einen professionellen Zugang zu dieser HiFi-Szene hatte, wie ich als Importeur und Händler, der kennt die Psyche der Audiophilen gut. Fazit: Das sind ganz normale Menschen mit einem Hobby. Wenn Sie ein normaler und unauffälliger Schweizer sein wollen, dann kaufen Sie sich besser einfach einen Zweitwagen, am besten etwas Sportliches, und geben dafür so viel Geld dafür aus, wie der audiophile Nachbar für seine Musikanlage. Und sie fallen kaum auf, weil es ja fast jeder tut, der ein wenig «Chlütter» auf der Seite hat.
Ich habe meine Kunden immer ein wenig benieden. Sie konnten leidenschaftlich dem Musikhören frönen. Ich hingegen hatte schon fast Mühe am Ende der Woche, oder auch zwischendurch noch Musik zu hören. Meine beruflichen Tage waren geprägt durch Vorführungen. Es ging darum zu überzeugen und zu begeistern. Wenn möglich schnell und eindrücklich. Gewiss hatte ich mein Gehör geschult und für jede Finesse geschärft, aber das entspannte Gefühl eines Musikabends oder einer musikalischen Stunde in der guten Stube kam mir schon ein wenig abhanden. – Déformation professionelle nennt man das wohl.
Der neue Lebensabschnitt hier in Frankreich brachte musikalisch eine neue Perspektive. Plötzlich stand die Musikanlage nur mir allein zur Verfügung. Sie hatte keinen professionellen Zweck mehr. – Keine Kunden, keine Klugscheisser. Ich konnte auch noch ein paar Veränderungen vornehmen, die ich schon einige Zeit im Sinn hatte. Der Ausbau des zweiten Plattenspielers zum Beispiel. – Richtig gelesen: des zweiten Plattenspielers. Ich musste allerdings lernen, wieder Musik zu hören. Vom Anfang bis zum Ende. Nicht nur einen Satz oder einen Song oder vielleicht zwei. Nein, ein ganzes Werk oder Konzert oder Album. Back to the Music heisst die Devise.
Dazu gehört auch, endlich einmal alles zu hören, das ich besitze. Musik steht uns heute dank Streaming à discrétion zur Verfügung doch wirklich in die Tiefe gehen die meisten Musikliebhaber nicht. Früher war es für die meisten selbstverständlich, sich ein ganzes Album anzuhören. Es ist erstaunlich, wie viele Musikinhalte, die mir physisch vorliegen oder die ich als gespeicherte Inhalte besitze, ich noch nie aufmerksam gehört habe. Bei den Schallplatten (Vinyl) führe ich jetzt sogar Buch. Dank der praktischen Datenbank von Discogs und deren App kann ich jede Schallplatte finden und abspeichern bzw. meiner Sammlung zuordnen. Aber erst, wenn ich mir das Album vollständig angehört habe.
Es braucht sehr viel Zeit Musik aufmerksam zu hören. Auch wenn man im privaten Konzertsaal sitzt. Aber eine halbe Stunde im Tag bringt bereits gute Gefühle und auch Erkenntnisse über die Musik und ihre Interpreten. Manchmal lese ich dazu etwas aus den Biografien oder nur schon, was auf der Rückseite der jeweiligen Schallplatte über die Interpreten Lesenswertes steht oder was mir mein bevorzugter Streamingdienst Qobuz an Informationen bereithält. Das lenkt dann vielleicht ein wenig vom Hören ab, aber nur kurz und schon habe ich wieder etwas gelernt.
Nun mag man vielleicht denken, dass Musikhören im Grunde bloss ein Zeitvertreib sei. Oder sogar Zeitverschwendung. Man könnte die Zeit besser nutzen. Für Sport oder die Familie oder sogar für die Arbeit. Denn nur wer arbeitet nützt der Gesellschaft und Musikhören ist ja keine Arbeit. Bleibt mir vom Leib mit solchen Einwänden. Man muss nicht immer arbeiten. Es gibt auch Pausen. Sport wird in der Gesellschaft massiv überbewertet. Kommt hinzu, dass man vieles unternehmen kann. Der lichte Tag dauert 12 Stunden.
Trotzdem ist es bedenklich, dass man in Lebensläufen unter Hobbies vor allem Sport nennt. Musikhören? – Um Himmels Willen. Vielleicht noch eine vorsichtige Erwähnung vom guten Leben mit Kulinarik oder Wein (ein gutes Glas Wein aber ja nicht die halbe Flasche), und beileibe nicht an erster Stelle. Nein, dorthin gehört das unbedingt Kompetitive: Die Leistungsbereitschaft im Privatleben. Die Intaktheit der Familie und die Führungsrolle des Mannes mit der Frau an seiner Seite und den lieben Kindern, die doch so gut sind in der Schule. Was für ein Bullshit.
Musik hat mich im Leben vor Schlimmem bewahrt. Sie hat mich aus tiefen Frustrationen gerissen und immer hat sie ausgeglichen. Musik hat in kurzen Momenten Emotionen geweckt und grosse Gefühle erzeugt. Ohne Musik kann ich gar nicht leben. Sie gibt mir einfach viel Energie und vor allem Ruhe und Freude.