Mauern in Frankreich
Was dem Ritter sein Burggraben, ist “dem Franzosen” seine Mauer, seine «mur de clôture». So sieht es jedenfalls aus.
Beim Spazierengehen in Frankreich ist nichts mit mal eben in fremde Gärten spicken, schauen, was so wächst oder was der Nachbar so treibt. Fast jedes freistehende Haus ist von einer hohen Mauer umgeben, meist aus Stein, manchmal auch in grün als undurchdringliche Hecke. Durchbrochen nur vom ebenfalls hohen und feste verschlossenen Tor. Wenn sich das Tor dann öffnet und man hineindarf, fühlt es sich manchmal fast an wie Einlass ins geheime Paradies.
Die Ästhetik der Mauer
Die Mauern sind von aussen nicht immer schön anzusehen, denn das interessiert hier niemanden. Da verschandeln teilweise völlig unverputzte Betonsteine das Strassenbild, aber man kann sicher sein, dass es von drinnen sehr viel schöner ausschaut.
Und so eine Mauer begnügt sich auch nicht mit 50 cm plus Jägerzaun drauf. Nein, wenn man hier eine Mauer ums Haus macht, muss sie hoch sein. Laut nationaler gesetzlicher Regelung sogar bis zu 3.20 Meter in Städten mit mehr als 50’000 Einwohnern, in kleineren Orten genügen 2.60 Meter Höhe. Die Gemeinden können lokal jedoch auch andere Masse definieren.
Warum überhaupt Mauern?
Warum überhaupt dieses Befürfnis, sich rundum einzumauern? Eine Mauer sorgt dafür, dass Einbrecher es etwas schwerer haben und dass Hunde und kleine Kinder auf dem Grundstück bleiben. Das sind ja schon gute Gründe. Aber anscheinend geht es hauptsächlich einfach um die Privatsphäre. Nicht jeder soll sehen können, was man hat und tut – oder eben auch nicht hat oder tut.
Andere Länder, andere Sitten
In Deutschland, aber auch in England und Amerika zeigt man ja gerne seinen Vorgarten. Jeder kann von der Strasse aus in den Garten, bis ans Haus und oft sogar ins Fenster schauen. Das finden Franzosen dann ziemlich verstörend.
Dieser Unterschied könnte laut einer These, die ich aufgeschnappt habe, auf dem unterschiedlichen kulturellen bzw. religiösen Hintergrund beruhen. Der angelsächsische oder deutsche Protestant will zeigen, dass er erstens nichts zu verbergen hat und sich zweitens einen schönen Garten und ein schönes Haus leisten kann. Der Katholik ist dagegen der Meinung, dass jeder Mensch im Grunde sehr viel zu verbergen hat und dass alles, was er hat und tut, nur seine Sache und die seines Beichtvaters ist.
Das ist natürlich überspitzt ausgedrückt. Und ganz so offenherzig ist man ja auch in Amerika, England und Deutschland nicht wirklich. Dort liegen die Vorgärten zwar öffentlich sichtbar da – aber die “Backyards”, der Teil der Gartens, wo man sich aufhält, sind auch hier meist von den Blicken Anderer abgeschirmt.
In manchen Teilen Frankreichs wie in Aquitanien, der Normandie oder in der Bretagne sind die Mauern übrigens viel niedriger oder sie fehlen völlig. Das könnte laut einer weiteren These auf dem relativ lange währenden (12.-15. Jahrhundert) englischen Einfluss in diesen Gebieten beruhen. Was aber wiederum gegen den religionskulturellen Erklärungsansatz spräche, denn damals waren die Engländer ebenfalls alle katholisch.
Weitere Thesen sind hiermit ausdrücklich willkommen.