Der amerikanische Traum in Capestang

Der amerikanische Traum in Capestang

Vor wenigen Tagen gesellte sich ein US-Amerikaner zum Expat-Apéro am Freitagabend. Er ist vor wenigen Wochen mit seiner Frau aus Washington State in der Nähe von Seattle hierher nach Capestang umgezogen. Wir waren uns einig, dass Washington State ein grossartiges Erlebnis am Pazifik mit schönen Städten und Landschaften bietet und eigentlich auch für Gabriele die alte Heimat bedeutet, an die sie sich mit Wehmut erinnert.

Nur gibt es eine Menge Gründe, weshalb sie nie dorthin zurückkehrte und eine Menge Gründe, warum «gut situierte» Amerikaner den Ort verliessen, um im Südfranzösischen Capestang heimisch zu werden. – Gut situiert bedeutet in diesem Fall, dass der Verkauf der Immobilie in Washington State zum Glück einen grossen Gewinn einbrachte. Damit konnten sie im Süden Frankreichs ein Haus kaufen und den Rest des Gelds sinnvoll anlegen. Ihre Rente reicht hier zum Leben allemal.

Unser neuer Bekannter beschrieb die Situation in aller Deutlichkeit und für jedermann verständlich:

In den USA kann man als Normalverdiener nicht in Rente gehen. Es gibt keine Sicherheit im Alter. Die meisten haben zu wenig. Sie müssen arbeiten, um ihr Haus zu finanzieren und ihre Krankenversicherung. Für letztere reicht es häufig nicht, was sich negativ auf die Versicherungsleistung auswirkt. Hat man einen medizinischen Notfall mit aufwändiger Operation etc., dann wird man zur Kasse gebeten. Ist man schon älter, dann kann man sein Haus gleich verkaufen, um die Schulden bei «Grey’s Anatomy» zu begleichen.

Grosse öffentliche Flächen sind vollgestellt mit den Behausungen der Gestrandeten. Wohnmobile sind Luxus. Zelte gibt es auch zuhauf. Es werden immer mehr. Das sind Slums mitten in Wohlstandsgebieten, bewohnt von Menschen, die von der Gesellschaft abbrechen, wie der Rand des Zwiebacks, den man vorsichtig anbeisst, um nur wenig Krümel zu verstreuen. Die USA haben kein Konzept für die Generationen, die nicht (mehr) arbeiten. Das ist jedem selbst überlassen. Viele von ihnen haben eine gute Ausbildung, haben ihren Studien-Kredit zurückbezahlt, haben redlich gearbeitet mit 2 Wochen Urlaub im Jahr, haben Kinder grossgezogen, ausgebildet…Sie haben ihr Humankapital auch in den Dienst der Gesellschaft gestellt, die sie nun vergisst.

Der amerikanische Traum? Was für ein Witz. Die USA? – Niemand will nach eingehender Analyse dorthin und viele wollen weg und wenigen ist es möglich. Die sitzen dann hier mit diesem eigenwilligen Ausdruck, als könnten sie jederzeit aus dem schönen unamerikanischen Traum erwachen. Es ist aber kein Traum. Sie brauchen hier keine drastischen finanziellen Folgen zu fürchten, wenn operative Eingriffen zu erfolgen haben. Sie sind sozialversichert. Zusatzversicherungen sind zahlbar und zugänglich. Man wird nicht abgelehnt. Es ist warm und warmherzig und es fühlt sich an, wie es sich anfühlen soll, wenn man sich zur Ruhe setzt, um vielleicht doch noch etwas zu arbeiten, wenn man will, und um zu leben. Was haben sie für ein Glück!

Was haben wir für ein Glück!

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Schlussbemerkung:

Wo wir herkommen, ist es bei weitem nicht so schlimm, aber es geht in eine ähnliche Richtung. Die AHV reicht nicht zum Leben. Die BVG bröckelt. Das Rentenalter wird weiter ansteigen. Die Krankenversicherung wird immer kostspieliger. Es wird schwierig, sein Wohneigentum im Alter zu finanzieren. Ergänzungsleistungen sind Gang und gäbe. Das Vermögen muss zuerst aufgezehrt sein. Man wird abhängig, darf kein Arbeitseinkommen mehr haben. Der Aktionsradius wird eingeschränkt. Die Altersarmut findet hinter verschlossenen Türen statt.


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